Vor einigen Tagen hatte ich ein ganz besonderes Erlebnis. Ich saß mitten in einer Vorstellung der Drei Fragezeichen. Zweite Show der Tour, achte Reihe, wir konnten gut sehen. Das Stück neigte sich dem Ende zu, als auf der Bühne einige Worte fielen, die ich zunächst kaum glauben konnte…
Doch der Reihe nach. Mit „Phonophobia“ ist derzeit wieder ein Live-Hörspiel aus der Detektivserie auf Tour, ein ganz eigenes Genre also. Der Erfolg der Drei Fragezeichen an sich ist ein einzigartiges Phänomen, dessen Bedeutung mit meinem Erlebnis nur entfernt zu tun hat und über das man anderswo viel nachlesen kann. Hier vielleicht nur so viel: Die Geschichten um die drei Detektive bilden für erstaunlich viele Leute meiner Generation – und deren Kinder – einen gemeinsamen Nenner. Menschen hören die Geschichten zur Unterhaltung, zur Entspannung, zum Einschlafen. In knapp 170 Folgen tauchen sie akustisch ein in eine Handlung, die vor ihren Augen zur Realität wird.
Statt ins Büro zu gehen, hatte ich am Vormittag dieses Tages, an dem das Bühnen-Hörspiel im Berliner Friedrichstadtpalast gastierte, eine besondere Aufgabe übernommen: Ich durfte zwei Besuchern aus Südafrika die Stadt zeigen. Ich hatte einen kleinen Rundgang vorbereitet, der uns zur Museumsinsel führte, zum Bundestag, zum Brandenburger Tor und dem Mahnmal. Ich vermittelte deutsche Geschichte, wir machten Fotos vom ehemaligen Mauerstreifen. Einer der Besucher war noch nie in Berlin gewesen. Der Berlin-Aufenthalt des anderen lag Jahre zurück.
Ich muss dazu erklären: Bei diesem zweiten Mann handelte es sich um Father Michael Lapsley. Als Anti-Apartheid-Aktivist hat Father Michael 1990 bei einem Sprengstoffanschlag durch eine Briefbombe beide Hände verloren. Nach seiner Genesung gründete der Pfarrer das Institute for Healing of Memories, ein Zentrum für Traumaarbeit. Nach Berlin war Father Michael gekommen, um seine gerade auf Deutsch erschienene Autobiografie „Mit den Narben der Apartheid“ vorzustellen.
Kurz bevor wir um die Mittagszeit auf unserer Tour durch Berlin schließlich den Potsdamer Platz erreichten, kamen wir zufällig am Geschäftssitz eines Herstellers für Medizintechnik und Prothesen vorbei. Ich hatte das Gebäude schon viele Male gesehen, war sogar drei Jahre lang täglich daran vorbeigefahren. Niemals hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, was hier beworben oder vorgestellt wird.
Father Michael blieb wie angewurzelt vor dem Gebäude stehen. “Diese Firma stellt Prothesen her, wahre Technikwunder. Da muss ich rein, ich muss Michelangelos Hand sehen!” Mit den beiden Besuchern betrat ich erstmals das Gebäude. Ich dolmetschte, Father Michael fragte nach Michelangelos Hand. Die Ausstellungsräume waren eigentlich geschlossen. Mit Charme und ohne Hände erreichte Father Michael aber schnell, dass uns eine junge Frau dennoch durch die Ausstellung führte und uns an einem Modell die Funktionen von Michelangelos Hand demonstrierte, einer neuartigen Handprothese. Diese hochtechnisierte Entwicklung hat den Vorteil, dass sie einen opponierenden, greifenden Daumen hat und dieser über Muskelimpulse gesteuert und eingesetzt werden kann – die Person, die sie trägt, kann damit also sehr präzise greifen. Außerdem hat die Prothese ein bewegliches Handgelenk und sieht einer echten Hand sehr ähnlich. Andere Prothesen hätten zwar auch einen Daumen, der jedoch zum Beispiel über eine bestimmte Bewegung der Schulter gesteuert werde, erklärte mir Father Michael. Diese Hand greife wie eine echte. Gefühlt habe er ohnehin Hände, sagte er. “Für mich ist es jetzt schon so, als hätte ich welche, denn mein Gehirn kann Hände denken. Hier würde ich greifen denken, und Michelangelos Hand würde greifen.”
Wenige Stunden später saß ich im Friedrichstadtpalast. Von der Handlung des Live-Hörspiels will ich nichts vorwegnehmen, immerhin läuft die Tour noch. Ich verderbe aber nichts, wenn ich sage, dass „Phonophobia“ von den menschlichen Sinnen handelt, vom Hören, Sehen, Riechen, Tasten. Auch eine künstliche Hand spielt eine nicht unbedeutende Rolle.
Und dann geht Justus Jonas gegen Ende des Stücks darauf ein, was es mit dieser Hand auf sich hat:
“Gesteuert wird die Prothese mit dem Gehirn. Man denkt greifen, und die Hand greift! Der Impuls geht vom Gehirn direkt in die künstliche Hand.” Peter Shaw und Bob Andrews waren verblüfft, doch das war nichts gegen meine eigene Überraschung. Ich blickte mich um. Hatte ich wirklich gerade Father Michaels Sätze gehört, die er wenige Stunden zuvor fast im Wortlaut gesagt hatte? Ich konnte es kaum glauben: Alles, was die Figur Justus auf seine unverwechselbare Art erläutert, habe ich erst wenige Stunden zuvor erfahren, als ich einen faszinierenden Menschen ohne Hände durch Berlin führte. Justus Jonas sprach weiter. Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Wie unheimlich!
Gleichzeitig fühlte ich mich fast wie beschenkt. Ich hatte bis zu diesem Tag noch nie in meinem Leben mit Handprothesen zu tun – ich hatte das Glück, das dieses Thema in meinem Leben noch nie von Bedeutung gewesen ist. Nun habe ich das Gefühl, als wäre eine Geschichte innerhalb der Geschichte entstanden, die ich gerade auf der Bühne gesehen habe. Die Klammer um die beiden Geschichten bin ich selbst. Entlang zwei straffen Fäden, deren Knoten am Abend des 11. März 2014 im Berliner Friedrichstadtpalast liegt, hat mich das Leben gleich zweimal am selben Tag zu diesem Thema geführt.
Was hat die Hand im Stück mit der bewegenden Geschichte von Father Michael zu tun, der so vielen Menschen Mut macht? Wofür steht die Hand eigentlich ganz abstrakt – ist sie bloßes Werkzeug, Identitätsmerkmal vieler Menschen, Mittel zum Austausch von Zärtlichkeit und Zuneigung? Wofür brauchen wir Hände – und wofür nicht? Was bedeuten mir meine eigenen Hände? Wie gehen wir mit Verletzungen um, wie mit Gewalt und Vergeben? Und schließlich: Was bedeutet das für unser Bild der Realität, wenn Father Michael sagt, er denke seine Hände, also habe er welche? In welcher Beziehung steht unsere Vorstellungskraft mit der Wirklichkeit?
Die Aufgabe wird sein, herauszufinden, warum diese Geschichte mir passiert ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass das kein Zufall ist.
Austernschale im Sand gesehen auf Amrum.
Text: Katharina Frier-Obad
Foto: Corinna Wodrich
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