Musik drin

„Dass unser Klavier immer noch in der Kirchengemeinde steht, ist eigentlich ein Wunder, wenn man das mal so überlegt. Es muss so um 1915 gebaut worden sein, vielleicht auch früher. Man kann das nachgucken, die meisten Klaviere haben innen eine Nummer, ich habe mir aber nie die Mühe gemacht. Dieses wurde in der Klaviermanufaktur Carl Ecke gebaut, in Berlin und Posen wurde produziert, das steht an der Seite drauf. Also Posen, im heutigen Polen. Wieso genau dieses Klavier gekauft wurde, weiß ich nicht, ob das eine besonders gute Marke war oder was. Jedenfalls hat meine Mutter darauf früher im Kino gespielt. Ja wirklich, im Kino! Sie hat die Stummfilme begleitet, das war damals so üblich. Wir hatten hier im Ort ein Kino, das glaubt einem heute keiner mehr. Fernsehen hatte noch niemand, das kam erst später, nach dem Krieg, erst in den Fünfzigern hatten die ersten Familien einen Fernseher. Viele auch erst in den Sechzigern. Naja, da war dann Schluss mit Klavierspielen. Meine Mutter hätte auch keine Zeit mehr gehabt, da hatte sie ja dann eine Familie, also uns vier Kinder, und dann die Enkel. Nicht dass sie da viel ferngesehen hat, dazu war viel zu viel zu tun. – Jedenfalls war sie schon immer sehr musikalisch, und zum Film musste immer jemand spielen. Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können, der hatte ja keine Tonspur, nur die Bilder, schwarz-weiß natürlich. Und da suchten sie Leute, die gut genug spielen konnten, um einen ganzen Film zu begleiten. Dazu musste man improvisieren können, und auch passend. Das ging ja nicht, dass man da eine lustige Melodie klimperte, und dann passierte etwas Gruseliges im Film! Oder andersrum. Meine Mutter konnte das.

 

Bei der ersten Aufführung kannte sie den Film vorher selbst nicht, sie hat ihn erst mit den anderen Zuschauern im Kino gesehen und musste sich spontan etwas Passendes einfallen lassen. Das Klavier stand seitlich neben der Leinwand, eigentlich fiel es auch nicht groß auf, denn im Saal ging ja das Licht aus. Meine Mutter mochte am liebsten die Komödien, da konnte sie am besten spielen, hat sie immer gesagt. Die Gruselfilme gefielen ihr nicht so sehr, aber noch schlimmer fand sie es, wenn es traurig wurde. Bei „Der Vagabund und das Kind“ musste sie so weinen, dass die Tränen auf die Tasten getropft sind, da geht es ja um ein Kind, das der Chaplin aufzieht, das hat sie dann sicher irgendwie an früher erinnert, naja. Zum Glück geht er gut aus, der Film, ich habe ihn mir dann später mal angeguckt.

 

Einer im Saal, der hat aber wohl gar nicht so auf die Leinwand geachtet, sondern immer in die dunkle Ecke mit dem Klavier geguckt. Das war nämlich mein Vater. Der war wahrscheinlich bester Kunde des Kinos, so oft war der da. Und seine Eltern dachten, er guckt so gern Filme! In Wirklichkeit wollte er nur meine Mutter spielen hören. „Dabei hat er mich doch immer nur von hinten gesehen“, hat meine Mutter immer gesagt. Naja, es wurde dann ja trotzdem was aus den beiden.

 

Dass das Klavier den Krieg überstanden hat, ist beachtlich. Viele Klaviere wurden verfeuert. Da war es wichtiger, dass es warm war. Hilft ja nichts, wenn man schöne Musik hat, aber friert. Ich weiß nicht, wie lange es das Kino überhaupt gegeben hat, irgendwann kam das Klavier jedenfalls zu uns nach Hause. Meine Mutter hat sich vielleicht gefreut! Das hatte sie ganz geschickt angestellt, sicher irgendwas getauscht oder ich weiß es nicht. Wir Kinder sollten natürlich alle spielen lernen, aber eigentlich hat es nur Erika wirklich gut gelernt. Sie kommt nach unserer Mutter. Wir anderen haben nie Lust zum Üben gehabt, naja, das machte sich dann bemerkbar. Nachdem niemand mehr gespielt hat und meine Mutter es auch nicht mehr konnte, hat sie es der Kirchengemeinde geschenkt. Das war eine gute Idee, denn dort wurde es gut behandelt. Oder vielleicht auch nicht, denn irgendwann bekam es die neue Front. „Sieht ja man ’n büschn putzig aus“, hat meine Mutter gesagt, aber gespielt wird es bis heute. Und das ist ja die Hauptsache. Ja, das ist die Geschichte von unserem Klavier. Über hundert Jahre muss es nun schon sein. Da war eine Menge Musik drin.“

 

Tasteninstrument gesehen in Hamburg

Bild: Corinna Wodrich
Text: Katharina Frier-Obad

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