Schatz, sie spielen unser Lied!

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Musik lebt durch Wiedererkennen. Die Musik aller Kulturen steckt voller Rituale und Wiederholungen. Das Wiederholen bestimmter Muster und ganzer Stücke, der Verweis auf Bekanntes oder Ähnliches bildet den Kern von Musik. Erst dadurch wird sie zum Träger von Emotionen.

Bevor die Menschen Geräte hatten, die Musikstücke wiederholt abspielen konnten, haben sie selbst musiziert und gesungen – dieselben Lieder wie ihre Vorfahren. Musiker haben seit jeher die Aufgabe, neuen Kompositionen genau die richtige Menge an Neuem und Bekanntem zu geben. Das richtige Verhältnis ist für die Menschen individuell unterschiedlich. Manche Menschen sehnen sich nach Neuem in der Musik, sind ständig auf der Suche. Anderen reicht es ihr Leben lang aus, bekannte Musik immer wieder zu hören.

Zum Zeitpunkt der Industrialisierung wuchs der Hunger nach Neuerungen – der Wunsch, wohlbekannte Lieder immer wieder zu hören, blieb. Der technische Fortschritt ermöglichte Geräte, die Lieder immer wieder abspielen konnten – sogar mehrstimmig! Zuvor musste man für mehrstimmige Musik entweder selbst gut musizieren können oder ein fähiges Emsemble hören. Ansonsten blieb nur: selbst singen.

Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert gab es zahlreiche Erfindungen und Patente auf Geräte, die aufgezeichnete Musik ins heimische Wohnzimmer holten. Und genau so ein Gerät zeigt das heutige Bild. Das Gerät ist – entsprechend beschriftet – ein Polyphon. Das Wort polyphon kommt aus dem Griechischen und bedeutet „mehrstimmig“, der Schriftzug im Foto bezeichnet aber den Namen des Herstellers aus der Nähe von Leipzig, der mit einigen anderen Deutschland neben den USA zu den größten Exporteuren mechanischer Musikinstrumente machte. 

Das Polyphon gehört zu den Spieluhren oder Spieldosen. Sein Vorläufer war unter anderem die Walzenspieluhr, bei der Metallstifte durch Noppen an einer Metallwalze zum Klingen gebracht wurden. Der Nachteil war, dass die Walzen nicht austauschbar waren und die Spieluhr deshalb immer nur ein Lied, manchmal einige wenige spielen konnte. Der Polyphon hatte die Noppen auf der Unterseite einer abnehmbaren Metallplatte – einer entfernten Vorfahrin der späteren Schallplatte. Die Metallstifte tasteten die Noppen unten an der Platte ab und wurden so angeschlagen und in Schwingung und zum Klingen gebracht. Die robusten Platten konnten ausgewechselt und auch nachgekauft werden. Der Polyphon im Bild zeigt die Platte mit Offenbachs „La vie Parisienne“.

Den Deckel der Polyphone zierte innen ein Bild. In diesem Fall handelt es sich wohl um eine Stadtansicht von Dresden – der sächsische Hersteller war offenbar stolz auf die Heimat! Ich stelle mir vor, dass das Polyphon nach dem Erwerb einen besonderen Platz in der Wohnung bekam. Die Familie versammelte sich um das Gerät, feierlich wurde der Deckel geöffnet, eine Platte ausgewählt. Zu welchen Gelegenheiten auf diesem Gerät wohl einst Musik abgespielt wurde? Jeden Abend nach dem Essen, wenn sich die zweifellos eher gutbetuchte Familie in der guten Stube versammelte? Oder fand die Benutzung nur an Festtagen statt? Durften die Kinder das Gerät benutzen? Sprach der Hausherr Verbote aus, wenn es ihm zu laut wurde? Schloss er dann den Musikkasten ab und nahm den Schlüssel an sich, um ihn als Belohnung an einem der kommenden Abende hervorzuzaubern? Oder blieb das Polyphon den Erwachsenen vorbehalten, die in der Stube verstohlen ein Tänzchen hinlegten oder sich romantischen Erinnerungen hingaben?

Das dekorative Grammophon war übrigens schon quasi parallel zu den Spieldosen erfunden worden und funktionierte auf Grundlage einer anderen Technik. Interessant ist, dass mit dem Fortschreiten der Formate die Abspieltechnik immer weniger sichtbar und immer körperloser wurde. Konnte man beim Polyphon die Nasen und Noppen der Metallplatte noch genau sehen, waren schon die Rillen der Schallackplatten und später der Schallplatten mit dem bloßen Auge nicht mehr erkennbar. Dass das Magnetband einer Cassette oder die silberne Schicht von CDs Musik enthielt, musste man glauben – sehen konnte man es jedenfalls nicht. Und dass Musik in Dateien gar keinen physischen Tonträger mehr haben, ist zwar beim Umzug praktisch, aber trotzdem irgendwie irre. 

Was sich nicht geändert hat, ist der Wunsch nach bekannten Mustern und Wiederholung in der Musik. Mehr denn je, hat man manchmal den Eindruck.

Polyphon gesehen in Hamburg.

Text: Katharina Frier-Obad
Foto: Corinna Wodrich

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