Schichten

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Ich frage mich, warum das Leben für die Menschen so unterschiedliche Erfahrungen bereithält. Manche Leute leben ruhig und relativ ereignisarm vor sich hin. Sie gehen ihren Weg, und irgendwann, wenn sie alt sind, endet ihr Leben.

Andere Menschen erleben Schicksalsschläge, die sie zutiefst prägen und verändern. Einige zerbrechen daran, manche schaffen es, damit umzugehen und das Erlebte irgendwie ertragbar zu machen. Manche wenden ihr – nach außen schier unerträglich scheinendes – Schicksal sogar zum Guten.

Unabhängig voneinander haben ein Freund und ein Bekannter von mir ihre Kinder verloren. Für sie ist aus heiterem Himmel das Unvorstellbare eingetreten. Für dieses Schicksal finde ich keine Worte.

Natürlich habe ich in den vergangen Wochen fast unaufhörlich darüber nachgedacht. Warum haben manche Menschen ein schwereres Schicksal als andere? Warum erfährt die Person A Unheil, die Person B nicht? Warum scheint sich bei manchen Menschen das Unglück geradezu zu stapeln und sich in Schichten auf ihre Persönlichkeit zu legen, bis es sie fast erdrückt? Warum sterben Kinder vor ihren Eltern?

Natürlich ist man recht schnell bei der Frage nach dem “Warum” – und dann landet man noch schneller bei nicht weniger als der Frage nach dem Sinn des Lebens.

Vielleicht ist aber schon die Frage nach dem Warum unzulässig. Vielleicht sollte die Frage lauten: Was nun? Wir leben unhinterfragt nach dem Paradigma, dass Antworten in der Vergangenheit zu suchen sind. Vielleicht ist das ja gar nicht so, vielleicht geschehen Dinge vielmehr, weil sie für irgendetwas in der Zukunft wichtig sind. Und doch bleibt ein Restzweifel, ob eine Sinnsuche ohne diese Frage nach dem Warum möglich und sinnvoll ist.

Ich könnte dazu einen Theologen fragen. Eine Muslima, einen Juden, eine Christin. Schamanen, Philosophen, Alte, Kinder – es gibt sicher Hunderte von Erklärungsmodellen. Was es nicht gibt, da bin ich mir ziemlich sicher, ist die eine Wahrheit.

Liegt die Antwort auf meine Fragen da draußen oder in mir drin? Der deutsche Begriff Sinn lässt sich auf das althochdeutsche Wort für „streben, begehren“ zurückführen, das mit dem Wort für „reisen, sich begeben“ verwandt ist. Aus diesem Ursprung ist auch das Lateinische sentire für „fühlen, wahrnehmen“ und sensus „Gefühl, Sinn, Meinung“ hervorgegangen. Für mich klingt das sehr danach, als seien Antworten eher in mir als verzehrfertig da draußen.

Das Schlüssigste, was ich in den letzten Wochen gehört habe, war Folgendes.

Die Antwort ist: Es gibt keine Antwort. Außer diese – finde heraus, was du gerne glauben willst.

Ich weiß nur noch nicht, ob das tröstlich oder unbegreiflich schrecklich ist. Wahrscheinlich muss man das für sich selbst beantworten. Diejenigen, die viele Schichten von Schicksal mit sich herumtragen, haben es dabei sicher unvorstellbar schwerer als andere.

Pappschichten gesehen in Hamburg

Text: Katharina Frier-Obad
Foto: Corinna Wodrich

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