Weg vom dürren Kokosläufer

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Ich hätte dieses Foto fast gelöscht. „Corinna“, hätte ich beinahe gesagt, „das ist nix. Es spricht nicht mit mir. Mach ein schönes Bild mit einer anständigen Geschichte dahinter.“ Aber irgendwie ging das dann doch nicht. Jetzt bin ich froh, dass ich drangeblieben bin.

Dieses Bild ist eine harte Nuss. Vielleicht, weil es nicht einmal ein richtiges Bild ist, sondern die Abbildung von Schrift samt der Zeichnung einer Schnecke. Zeichnung und Satzfragment – ein Buchstabe ist von einem Kreis umschlossen – sind mit schwarzem Filzstift auf eine helle Fläche gesetzt, ein Whiteboard vielleicht, auf dem noch die vorige Beschriftung durchschimmert. Die Abkürzung „Mr.“, ein Smiley auf Beinen. Vielleicht.

Der Text, schwungvoll geschrieben, lautet: „Gehäuse denen, die sie nutzen!“ Die Verfasserin oder der Verfasser der Zeilen möchte, dass Gehäuse auch genutzt werden. Genauer: Gehäuse sollen denen zur Verfügung stehen, die sie nutzen. Oder: ihnen gehören? Im Umkehrschluss könnte das auch bedeuten: Nicht-Nutzer sollen keine Gehäuse haben.

Unter der Annahme, dass mit Gehäusen Häuser, Wohnungen, Zimmer gemeint sind, richtet sich die Verfasserin vermutlich gegen Leerstand von Wohnungen, vielleicht auch gegen Vermietungen als Ferienwohnungen.

Das Thema ist in Hamburg, wo das Foto aufgenommen wurde, drängend: Bezahlbare Wohnungen sind Mangelware, trotzdem gibt es Leerstand, und zwar sowohl von marktaktiver Büro- als auch von Wohnfläche. Marktaktiv ist eine Wohnung dann, wenn sie unmittelbar vermietbar oder zumindest mittelfristig aktivierbar ist; keine Ruinen also. 2015 gab es dem Forschungsinstitut empirica zufolge in Hamburg 0,6 Prozent Leerstand. Zum Vergleich: Die niedrigsten Leerstandsquoten gibt es in München (0,2 Prozent),  Münster und Frankfurt/Main (je 0,5 Prozent). In Salzgitter und Pirmasens stehen 9,8 beziehungsweise 9,3 Prozent der Wohnungen leer. In Hamburg entsprach die Quote etwa 4.300 Wohnungen.

Wohnungen müssen zum Wohnen genutzt werden.
So ist es gesetzlich geregelt, übrigens schon seit 1971, zumindest in Hamburg. Seitdem gilt hier ein sogenanntes Zweckentfremdungsverbot für Wohnraum. Allerdings gibt es legale und nicht legale Zweckentfremdung. Das Stadtportal hamburg.de nennt als Beispiele für legale Zweckentfremdung Arztpraxen, Kanzleien oder Kitas mit Bestandsschutz.

Leerstehen lassen ist keine legale Zweckentfremdung. Ende 2016 wurde deshalb zum ersten Mal ein Eigentümer vorübergehend enteignet. Sechs Wohnungen im Stadtteil Hamm standen jahrelang leer, nun ist der Eigentümer gezwungen, sie für die Vermietung freizugeben. Grundlage ist das Hamburgische Wohnraumschutzgesetz und ein Zusatz von 2013: Wenn Wohnraum lange leersteht, heißt es hier, „kann die zuständige Behörde zur Wiederherstellung für Wohnzwecke einen Treuhänder einsetzen“. Dieser Treuhänder „hat die Aufgabe, anstelle des Verfügungsberechtigten den Wohnraum wieder für Wohnzwecke herzustellen“. Die Kosten dafür trägt der vorübergehend enteignete Besitzer; der Treuhänder schließt auch Mietverträge, an die der Eigentümer dann gebunden ist.

Ich finde das alles traurig.
Es ist traurig, dass Menschen zu irgendwas gezwungen werden müssen, zum Beispiel was sie mit ihrem Eigentum machen sollen – einerseits. Andererseits ist es traurig, dass Leute trotz Wohnungsknappheit ihre Immobilien leerstehen lassen, weil sie darauf spekulieren, sie später zu einem viel höheren Preis zu vermieten. Zu einem Preis, den sich die meisten Leute mit einem durchschnittlichen Einkommen nicht leisten können. Schon jetzt gehen 30 Prozent der Monatseinkünfte in Deutschland durchschnittlich für die Miete drauf. Und wo ist dieser Anteil bundesweit am größten? In Hamburg natürlich: Hier zahlen die Menschen mit 47 Prozent fast die Hälfte ihres Nettoeinkommens an den Vermieter! Zum Vergleich das Ende der Tabelle: in Sachsen sind es 26 Prozent – was ich immer noch viel finde. Das Thema der kleinen Hausbesetzerschnecke ist schon lange kein Randphänomen mehr, sondern stellt für ganz normale Leute ein echtes Problem dar.

Wie so viele Dinge findet die Wohnungssuche unter einem irren Konkurrenzdruck statt. Ich will keinen Beauty Contest mit zweihundert anderen Bewerbern um eine Wohnung, um dann ein Drittel meines Geldes für eine düstere, laute Bude hinzulegen. Ich will auch keinen Anwalt brauchen, damit ich einen Schulplatz für mein Kind kriege. Von Jobbewerbungen mal ganz abgesehen. Muss ich demnächst eine Hochglanz-Bewerbungsmappe abgeben, bevor ich im Supermarkt einkaufen darf?

All das fragt sich vielleicht auch die Schnecke im Bild. Statt traurig ist sie hellwach und wütend: Mit ihrem winzigen Schneckenhaus, in dem nicht einmal eins ihrer übergroßen Augen Platz hätte, zeigt sie mit ihrem angedeuteten Gebiss die Zähne, obwohl sie als Schnecke naturgemäß langsam und verletzlich ist. Immerhin trägt sie ihr Haus mit sich herum. Und so fügt sich schließlich auch der Begriff „Gehäuse“ in die Botschaft.

Der Begriff hat mich lange irritiert. Eine Schnecke trägt doch gar kein Schneckengehäuse – sondern ein Schneckenhaus? Überhaupt, dieses Wort – Gehäuse! Sag das dreimal hintereinander laut und es verliert jeglichen Sinn! Ge-HÄU-se. Häuse – Häuser – Häute – Haut – laut …. Zum Glück gibt es den Duden. In der Online-Version stehen die Bedeutungen: „1. feste, schützende Umhüllung um etwas; 2. Kurzform für: Kerngehäuse; 3. (Sportjargon) Tor“ und – siehe da – „4. (veraltet) Behausung“. Am häufigsten wird der Begriff heute jedoch offenbar im Zusammenhang mit technischen Geräten wie Computern und Kameras verwendet. Hier werden empfindliche Bauteile durch die feste Hülle geschützt. So langsam ergibt es Sinn: Das Gehäuse schützt die Wohnung – und dass die Wohnung besonderen Schutz genießt, steht sogar im Grundgesetz: „Die Wohnung ist unverletzlich“, heißt es im Artikel 13.

Wohn-Botschaften 
Weiteren Aufschluss gab das N. Der erste Buchstabe im Wort „nutzen“ ist eingekreist, der senkrechte Balken nach oben ist mit einem Pfeil versehen. Hier habe ich etwas Neues gelernt. Ich hielt ein N im Kreis für das Symbol der Nihilisten, ähnlich dem A im Kreis als Symbol für Anarchismus. Tatsächlich scheint das N im Kreis mit Pfeil das Erkennungszeichen der Hausbesetzerbewegung zu sein. Genaugenommen ist das Symbol nämlich ein Blitz in Form eines Ns. Seinen Ursprung soll das Symbol in den Zinken der Hobos haben, den Wanderarbeitern in den USA des 19. und 20. Jahrhunderts. Zinken sind geheime Zeichen des fahrenden Volks, mit denen die Leute Botschaften übermittelten. Wikipedia gibt weiter an: „Das Symbol soll in der niederländischen Hausbesetzerszene der 1970er-Jahre entstanden und einem Zinken nachempfunden worden sein, der ebenfalls aus einem Kreis mit einem Blitz bestand und so viel wie ‚hier kann man gut eine Nacht bleiben‘ bedeutet haben soll. Der Buchstabe N, als der sich der Blitz lesen lässt, wird als Abkürzung für ’neemt‘ interpretiert, dem niederländischen Wort für ‚genommen‘ oder im übertragenen Sinn ‚besetzt‘.“ Eine andere Erklärung ist laut Wikipedia die Herkunft aus dem nordamerikanischen Indianersymbolschatz. Hier bedeutete ein nach oben zeigender Pfeil im Kreis „Der Kampf geht weiter“, der Blitz stand für „schnell“.

Nun wäre dieses Blog nicht mein Blog, wenn es nicht noch einen popkulturellen Hinweis gäbe. Auch die ostdeutsche Band City hat das Hausbesetzer-N in ihrem Logo – und zwar offenbar seit 1977. Es wäre interessant, die Designer des Bandlogos zu fragen, ob die Ähnlichkeit Absicht war. Auch in Ost-Berlin, wo City gegründet wurden, und in anderen Städten der DDR gab es Hausbesetzungen. Meist verschafften sich Leute unauffällig Zugang zu einer Wohnung in einem der verfallenden Altbauten, die durch die Neubauwelle in den 70er Jahren zunehmend leerstanden. Damit umgingen sie die staatliche Wohnraumlenkung der DDR, wo es zwar insgesamt einen großen Wohnraummangel, in den Altbauten zugleich aber auch viel Leerstand gab. 1971 sollen 600.000 Wohnungssuchende registriert gewesen sein, die durchschnittliche Wartezeit auf eine Wohnung betrug zehn Jahre. Offenbar hatten Wohnungsbesetzungen keinen politischen, sondern vielmehr einen ganz pragmatischen Hintergrund. Junge, unverheiratete Kinderlose hatten kaum Chancen darauf, eine Wohnung zugewiesen zu bekommen, und die Tatsache, dass sie die besetzten Wohnungen beheizten und instandhielten, führte oft dazu, dass die Besetzer geduldet wurden.

Man könnte jetzt noch weit ausholen zur Geschichte der Hausbesetzungen in Hamburg, zur kommunalen Aufgabe der Wohnungspolitik als Daseinsvorsorge, zu staatlichen Wohnungsmonopolen im Speziellen und Immobilienspekulation im Allgemeinen. Vielleicht zu einem anderen Foto. Zur Schnecke mit den großen Augen gab es nun doch einiges zu erzählen. Viel Botschaft auf wenig Bild.

Hausbesetzerschnecke gesehen in Hamburg.

Text: Katharina Frier-Obad
Foto: Corinna Wodrich

 

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